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Die Aufklärungsszene aus Frühlingserwachen

Frühlings Erwachen (Untertitel „Eine Kindertragödie“) ist ein 1891 erschienenes gesellschaftskritisch-satirisches Drama von Frank Wedekind. Das Stück erzählt die Geschichte mehrerer Jugendlicher, die im Zuge ihrer Pubertät und der damit verbundenen sexuellen Neugier mit den Problemen psychischer Instabilität und gesellschaftlicher Intoleranz der Erwachsenen konfrontiert sind. Die Uraufführung fand erst am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen unter der Regie von Max Reinhardt und – ungenannt – von Hermann Bahr statt. Quelle

Aufgaben:

  1. Lies den folgenden Text. Kläre ggf. Verständnisfragen.
  2. Formuliere einen einleitenden Satz einer Inhaltsangabe zu diesem Text. Achte darauf, eine Handlung und nicht eine Figur in den Mittelpunkt zu stellen.
  3. Wendla wendet als Tochter im Gesprächsverlauf unterschiedliche Strategien an, um auf ihre Frage eine geeignete Antwort zu erhalten. Welche Strategien sind das? Belege deine Aussagen am Text (Seitenangabe und ggf. Zitat reichen).
  4. Diskutiere, ob dieser Text sich mit deinem Vorstellungen von „Aufklärung“ aus dem Einstieg deckt.

Zweite Szene

Wohnzimmer.

Frau Bergmann

(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)

Wendla! — Wendla!

Wendla

(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür rechts)

Was gibt′s, Mutter?

Frau Bergmann

Du bist schon auf, Kind? — Sieh, das ist schön von dir!

Wendla

Du warst schon ausgegangen?

Frau Bergmann

Zieh dich nun nur flink an! — Du mußt gleich zu Ina hinunter. Du mußt ihr den Korb da bringen!

Wendla

(sich während des folgenden vollends ankleidend)

Du warst bei Ina? — Wie geht es Ina? — Will′s noch immer nicht bessern?

Frau Bergmann

Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.

Wendla

Einen Jungen? — Einen Jungen! — O das ist herrlich! — — Deshalb die langwierige Influenza!

Frau Bergmann

Einen prächtigen Jungen!

Wendla

Den muß ich sehen, Mutter! — So bin ich nun zum dritten Mal Tante geworden — Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!

Frau Bergmann

Und was für Jungens! — So geht′s eben, wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! — Morgen sind′s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem Mullkleid die Stufen hinanstieg.

Wendla

Warst du dabei, als er ihn brachte?

Frau Bergmann

Er war eben wieder fortgeflogen. — Willst du dir nicht eine Rose vorstecken?

Wendla

Warum kamst du nicht etwas früher hin, Mutter?

Frau Bergmann

Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch etwas mitgebracht — eine Brosche oder was.

Wendla

Es ist wirklich schade!

Frau Bergmann

Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche mitgebracht hat!

Wendla

Ich habe Broschen genug …

Frau Bergmann

Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst du denn noch?

Wendla

Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen kam.

Frau Bergmann

Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! Ina sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm gesprochen.

Wendla

Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.

Frau Bergmann

Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein kam.

Wendla

Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? — Der Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den Schornstein fliegt oder nicht.

Frau Bergmann

Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger vom Storch! — Der schwatzt dir allerhand dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt … Wa — was glotzst du so auf die Straße hinunter??

Wendla

Ein Mann, Mutter — dreimal so groß wie ein Ochse! — mit Füßen wie Dampfschiffe …!

Frau Bergmann

(ans Fenster stürzend)

Nicht möglich! — Nicht möglich! —

Wendla (zugleich)

Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf — — eben biegt er um die Ecke …

Frau Bergmann

Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! — Deine alte einfältige Mutter so in Schrecken jagen! — Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,[62] wann bei dir einmal der Verstand kommt. — Ich habe die Hoffnung aufgegeben.

Wendla

Ich auch, Mütterchen, ich auch. — Um meinen Verstand ist es ein traurig Ding. — Hab′ ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum dritten Male Tante geworden, und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht … Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag′s mir, geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir Antwort — wie geht es zu? — wie kommt das alles? — Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.

Frau Bergmann

Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! — Was du für Einfälle hast! — Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht!

Wendla

Warum denn nicht, Mutter! — Warum denn nicht! — Es kann ja doch nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut!

Frau Bergmann

O — o Gott behüte mich! — Ich verdiente ja … Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an!

Wendla

Ich gehe, … Und wenn dein Kind nun hingeht und fragt den Schornsteinfeger?

Frau Bergmann

Aber das ist ja zum Närrischwerden! — Komm Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir Alles … O du grundgütige Allmacht! — nur heute nicht, Wendla! — Morgen, übermorgen, kommende Woche … wann du nur immer willst, liebes Herz …

Wendla

Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! — Nun ich dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.

Frau Bergmann

— Ich kann nicht, Wendla.

Wendla

O, warum kannst du nicht, Mütterchen! — Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich[64] will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will geduldig ausharren, was immer kommen mag.

Frau Bergmann

— Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! — Komm in Gottes Namen! — Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. — So hör mich an, Wendla …

Wendla

(unter ihrer Schürze)

Ich höre.

Frau Bergmann (ekstatisch)

— Aber es geht ja nicht, Kind! — Ich kann es ja nicht verantworten. — Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt — daß man dich von mir nimmt …

Wendla

(unter ihrer Schürze)

Faß dir ein Herz, Mutter!

Frau Bergmann

So höre denn …!

Wendla

(unter ihrer Schürze, zitternd)

O Gott, o Gott!

Frau Bergmann

Um ein Kind zu bekommen — du verstehst mich, Wendla?

Wendla

Rasch, Mutter — ich halt′s nicht mehr aus.

Frau Bergmann

— Um ein Kind zu bekommen — muß man den Mann — mit dem man verheiratet ist … lieben — lieben sag′ ich dir — wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, wie — wie sich′s nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst … Jetzt weißt du′s.

Wendla

(sich erhebend)

Großer — Gott — im Himmel!

Frau Bergmann

Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!

Wendla

— Und das ist alles?

Frau Bergmann

So wahr mir Gott helfe! — — Nimm nun den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. — Komm, laß dich noch einmal betrachten — die Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die Matrosentaille, die Rosen im Haar …… dein Röckchen wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, Wendla!

Wendla

Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, Mütterchen?

Frau Bergmann

Der liebe Gott behüte dich und segne dich! — Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.